In Achtsamkeit aufblühen

Nie hätte ich mir das vorstellen können. Kaum war meine erste Tochter geboren, begann ein völlig neues Leben für mich. 24 Stunden am Tag habe ich jedes Lebenszeichen registriert, jedes etwas lautere Atmen weckte mich aus dem Schlaf, jede Lebensäußerung, jede Bewegung faszinierten mich. Nach drei Tagen und Nächten war ich so erschöpft, dass ich einen Tag durchschlafen musste.

Die ersten drei Jahre ihres Lebens war ich dann überwiegend zu Hause. Tagsüber fütterte, wickelte und spielte ich mit ihr, kochte, kaufte ein und kümmerte mich um den Haushalt, nachts schrieb ich an der Abschlussarbeit für mein Studium. Begeisterung und Überforderung, Freude und Erschöpfung wechselten sich beständig ab.

24/7 im Dienst

7 Tage die Woche 24 Stunden zuständig zu sein, war eine überwältigende Erfahrung. Ich lernte meine Gefühle völlig neu kennen, die Wut, wenn etwas nicht funktionierte, Enttäuschung und Verzweiflung, wenn meine Frau und ich uns einfach nicht einigen konnten. Aber auch glückselige Momente zu dritt und ungeahnte Energiereserven – ich hatte vorher keine Ahnung, dass ich sehr gut auch mit einer Hand kochen kann, während mein Baby auf der Schulter schläft.

Das pure Leben

Das Leben mit kleinen Kindern hat nach meiner Erfahrung kaum Zeit für Ruhe oder Entspannung. Eine Aufgabe nach der anderen ist zu erledigen, ohne lange über gestern oder morgen zu grübeln. Jeder Gedanke, jeder gefasste Plan ist längst vom nächsten Entwicklungsschritt oder dem veränderten Schlafrhythmus überholt worden.

Der frühe Morgen war in dieser Zeit ein wunderbarer Anker für mich. Kurz nach fünf Uhr eine Tasse Tee gemeinsam mit meiner Liebsten, bevor sie zur Arbeit fährt. Und dann eine halbe Stunde in meiner Meditationsecke auf dem Kissen sitzen, bevor die Kleine aufwacht. All die Gedanken und Gefühle, die Müdigkeit, die Hoffnungen und Wünsche, die Sorgen und Probleme, die zufallenden Augen und die schmerzenden Knie. All das war ich – und in dieser halben Stunde durfte das alles so sein.

Einfach sein - gar nicht so einfach

Aber die stetige Erfahrung, wie alle meine so unterschiedlichen Gedanken und Gefühle nacheinander kommen und gehen, ohne dass ich etwas dazu tun muss, strahlte in meinen Alltag aus. Und sie hilft mir bis heute sehr, mich nicht zu sehr an meine Ziele und Vorstellungen zu hängen, sondern mich überraschen zu lassen, zu akzeptieren oder sogar zu genießen, wenn das Leben in eine andere Richtung geht, als ich geplant habe.

So viele äußere Einflüsse beeinflussen unser Leben: glückliche Fügungen, Viren und andere Zufälle, Erkrankungen, einschneidende Begegnungen, Familie und andere wichtige Personen. Ich kann nicht mal in meinem eigenen Leben allein entscheiden, wo ich ankommen werde. Auch wenn ich oft kräftig rudere, um die Richtung zu halten.

Beifahrer-Bewußtsein

Wie könnte ich da auf die Idee kommen über das Leben meiner Kinder bestimmen zu können? Ich finde, sie haben das Recht auf ihren ganz eigenen Weg. Und meine Rolle dabei ist die des Beifahrers, des Begleiters und Unterstützers. Ich habe die Karte meines Lebens in Händen – einige Straßen meine ich zu kennen, andere Gegenden sind mir völlig fremd. Manchmal weiß ich eine Abkürzung, aber wohin will mein Kind eigentlich? Welche Landschaften möchte sie heute erkunden? Und wer weiß, wofür dieser Umweg einmal gut sein wird?

Ermutigung auf diesem Weg habe ich immer wieder in dem Buch von Myla und Jon Kabat-Zinn „Mit Kindern wachsen“ gefunden. Es enthält eine faszinierende Sammlung von Erlebnissen aus dem Alltag mit drei Kindern, mit inspirierenden Geschichten und Reflexionen, zahlreichen Bezügen zur Achtsamkeitspraxis und vielen Möglichkeiten für mehr Entfaltung aller Familienmitglieder.

Buchtipp:
Myla & Jon Kabat-Zinn: Mit Kindern wachsen.
Die Praxis der Achtsamkeit in der Familie.
Arbor Verlag, Freiburg 1997, ISBN 3-924195-40-4, www.arbor-verlag.de

Sie haben darin wunderbar beschrieben, worum es aus meiner Sicht nicht nur in der Meditation, sondern im ganzen Leben geht:

„Daß wir uns der Schönheit des Lebens und seines Geheimnisses bewußt werden und bleiben – dessen, daß wir einen Körper „haben“, daß wir lebendig sind, daß wir mit unserer Familie, mit unseren Freunden, mit der Natur und mit dem Planeten Erde verbunden sind, daß wir nicht alle Antworten kennen und nicht einmal immer wissen, wohin wir gehen. All das ist okay.“
(Myla & Jon Kabat-Zinn – Mit Kindern wachsen – S.126)

Mein Fazit:
Kaum ein Ereignis im Leben bietet so viele Gelegenheiten, über sich hinaus zu wachsen, wie das Leben mit Kindern. Wie in einem intensiven Meditationsretreat sind wir 24/7 im Dienst, können nichts planen, sondern sind gefordert, stets flexibel auf die wechselnden Anforderungen der Situation zu reagieren. Und dann geschieht das Wunder: Unsere Kinder und wir selbst können aufblühen.

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