In der Ruhe liegt die Kraft

Heute ist mir ein altes Wort wieder in den Sinn gekommen, dass mir in meinem Studium vor 25 Jahren das erste Mal begegnet ist: Autopoiesis. Es stammt aus dem Altgriechischen, zusammengesetzt aus αὐτός „selbst“ und ποιεῖν „schaffen, bauen“, und beschreibt den Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems in immerwährendem Dialog mit seiner Umgebung.

Kooperation und Toleranz –
die Grundlage aller lebendigen Systeme

In den 1980er Jahren haben zwei chilenische Neurobiologen – Humberto Maturana und Francisco Varela - das Wort Autopoiesis für die Biologie angewendet. Sie waren meines Wissens mit die ersten in der klassischen Biologie, die das alte Weltbild vom „Gesetz des Dschungels“ in dem jede/r seines Nächsten Wolf ist, hinter sich gelassen haben. Sie haben in ihrem Buch beschrieben, wie Kooperation und Toleranz – und nicht Konkurrenz – die Grundlage aller lebendigen Systeme sind.

Buchtipp:
Der Baum der Erkenntnis
Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens
Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela
Zum Beispiel auch bei www.thalia.de erhältlich.

Wer nicht verbunden ist, fällt zu Boden

Ich stelle mir Familien und andere Gemeinschaften oft als Mobiles vor. Zunächst sieht es so aus, als hinge jede/r allein an seiner Schnur. Eine Ebene darüber bin ich aber schon mit meinem Nachbarn verbunden, und wenn ich noch höher schaue, kann ich erkennen, dass wir letztlich alle am selben „seidenen Faden“ hängen. Ein unabhängiges Individuum gibt es nicht. Wer nicht verbunden ist, fällt zu Boden.

Für mich bietet dieser systemische Blickwinkel viele Parallelen zur Wirklichkeit. Zum Beispiel ist es sehr schwer, andere gezielt in eine Richtung zu beeinflussen, wenn ich mich nur als Einzelne/n betrachte. Doch wenn ich mich bewege, verändert sich über unsere Verbindung auch die Position meines Gegenübers. Er/Sie bekommt einen neuen Blickwinkel. Und gemeinsam können wir vielleicht noch mehr Ebenen in Bewegung bringen. Vielleicht stößt dieser Text auch in Ihnen einen Gedanken oder eine Erinnerung an, zieht Kreise und wirkt so in Ihr persönliches Mobile hinein.

Je weiter der Blick, desto weniger Chaos

Den Blick zu weiten und einen möglichen größeren Zusammenhang zu sehen, bringt neue Perspektiven. Dieser Gedanke hilft mir oft im Alltag, mit meinen Kindern oder auch im Beruf, wenn sich ein „entweder - oder“, „Ich will…“ oder „Du sollst…“ in den Vordergrund drängen.

Beim Schulabschlussball meiner Tochter wurden von professionellen Fotografen Bilder gemacht, die die Eltern dann zu einem horrenden Preis abkaufen sollten. Nun hatte ich unsere Mappe zur Ansicht mit an den Tisch genommen, und es stellte sich die Frage: Kaufen, zurückgeben oder einfach einstecken und mitnehmen? Erwischt worden wären wir in dem Durcheinander sicher nicht, der Fotograf hätte zwar minimal weniger Profit aus dem Abend gescheffelt, aber sehr geschadet hätte es ihm nicht. Zurückgeben war jedenfalls keine Option, schließlich wollten wir die Fotos als Erinnerung gerne haben.

Die Alternativen waren also klar: Entweder wir kaufen die Mappe zum überhöhten Preis, sind also ehrlich – und der Fotograf kommt nach seinem Ableben wegen Wucher in die Hölle. Oder aber wir nehmen die Mappe ohne zu bezahlen mit, dann bleibt der Fotograf ungeschoren, aber wir werden wohl in der Hölle landen, da wir gestohlen haben. Am Ende läuft es also auf dasselbe hinaus: Eine/r landet in der Hölle und eine/r im Himmel. Wir haben schließlich entschieden zu zahlen – ewiges Fegefeuer ist eben doch nicht so attraktiv. ;-)

Was will ich beitragen?

Nichts geschieht unabhängig. Wo auch immer mein Platz im Mobile ist, stets habe ich jemand über mir, neben und unter mir. Ich bin Beweger und werde bewegt.

Will ich in dieser Situation also wild zappeln, die Unruhe vermehren, Zusammenstöße provozieren – und was will ich damit erreichen? Oder will ich meinen Einfluss auf andere Weise wirken lassen, mit weniger Konfrontation? Geht es mir vorrangig um meine innere Ruhe oder um eine Veränderung der Situation?

Über das schlichte „Ich gut – er böse“ hinauszuschauen, hat uns damals die Entscheidung erleichtert. Wir sind nicht im Ärger über die Preise hängengeblieben, sondern mussten über mein etwas skurriles Argument erstmal herzlich lachen. Und wir konnten uns in gewisser Weise der „ungerechten Situation“ stellen und eine konstruktive Lösung finden, ohne uns als Opfer zu fühlen.

Immer wieder in jedem Moment den eigenen SpielRaum für Entfaltung auszuloten, ist mein Leitmotiv im Leben wie in diesem Blog. Denn meine Erfahrung sagt mir: Wir haben immer SpielRaum, können stets entscheiden, auch wenn wir das manchmal vergessen.

Mein Fazit:
Ob die Zellen in unserem Körper, Bauteile in einer Maschine oder Einzelne in einer Gemeinschaft – nichts kann für sich allein existieren und wirken. Interdependenz ist die angemessene Sichtweise auf die Welt, da alles miteinander verbunden ist. Wie will ich also verbunden sein? Zu welchem Miteinander lade ich ein?

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