Kaligraphie: Welchen Wolf fütterst du?

Jeder Mensch bringt aus seiner Geschichte vielfältige emotionale Prägungen mit. Wenn wir erkennen, wie wir unter manchen alten Verletzungen und Gefühlen leiden, dann entsteht ganz natürlich Mitgefühl in uns, eine sanfte Traurigkeit, die mit dem Wunsch verbunden ist zu helfen und zu heilen. Dieses Mitgefühl uns selbst und anderen gegenüber zu leben und zu kultivieren ist ein Weg, immer mehr SpielRaum für Entfaltung entstehen zu lassen.

Es gibt diese wunderbare Geschichte von den beiden Wölfen in uns, die all die gegensätzlichen Impulse in uns verkörpern: Gut oder Böse, Liebe oder Hass, Aggression oder Zuwendung. Welcher von beiden gewinnen wird, hängt davon ab, welchen wir füttern. Als Erwachsene müssen wir eben nicht mehr jeden Impuls ausleben, wir haben die Entscheidung, wie wir mit herausfordernden Situationen umgehen.

Welchen Wolf fütterst Du?

Thich Nhat Hanh, ein bekannter vietnamesischer ZEN-Lehrer, beschreibt dies mit dem Bild der in uns liegenden Gefühls-Samen, die von der aktuellen Situation gewässert und zum Aufkeimen gebracht werden. Mit dieser Sicht auf mein Erleben kann ich jede Situation nutzen, um etwas über die in mir geweckten Samen zu lernen und unter welchen Bedingungen sie aktiv werden.

Das Freud´sche Märchen vom Menschen als des Menschen Wolf war lediglich ein historisch kurzes Intermezzo des mechanischen, manipulativen und individualisierten Weltbildes, gefangen in einer dualistischen Logik. Diese Idee unabhängiger Individuen, die gegeneinander konkurrieren, führte zu einer Wettbewerbskultur, die offensichtlich unfähig ist, die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse sicherzustellen und die auch bei der Bewahrung unserer Lebensgrundlagen scheitert.

Hierarchie nutzt nur den Mächtigen

Und so wie alle anderen historisch gewachsenen Strukturen wird auch diese Wettbewerbskultur überwunden werden. Immer deutlicher zeigt sich: Unterschiede müssen nicht zu Konflikten führen, sie können uns auch bereichern und inspirieren. Hierarchische Beziehungen können aufgelöst werden und bedürfnisorientierte Kooperation an ihre Stelle treten. Wir haben viel mehr Potentiale zu entdecken, gerade weil wir so vielfältig unterschiedlich sind. Und weil unsere ganze Natur auf Kooperation ausgerichtet ist. Handeln aus der Verbundenheit ist unsere Stärke und unsere Überlebenschance.

Die individuelle Frage lautet: Wie gehe ich mit Unterschieden um? Wie kann ich die Vielfalt des Lebens genießen und was hindert mich manchmal daran? Wir leben in der paradoxen Situation, uns als Einzelne und Unterschiedliche zu erleben und gleichzeitig permanent vernetzt, in Beziehung und abhängig von vielen anderen zu sein. Dieser Widerspruch kann nicht aufgelöst werden, sondern will in jeder Situation gelebt werden. Wie können wir uns also gegenseitig unterstützen, mehr Vielfalt zu leben?

Verbundenheit lässt uns wachsen

Eines jedenfalls steht für mich fest: Mein Innenleben, die Beziehungen zu den Menschen um mich herum, und natürlich auch die äußerlichen Bedingungen meines Lebens sind in steter Veränderung. Von dort ist keine Sicherheit und kein Frieden zu erwarten. Es gibt keine Stabilität, weder im Innen noch im Außen.

Aber in jedem Moment besteht die Freiheit zu mehr Ganzheit. Alle meine Wunden, Fehler und Eigenheiten dürfen die Zeit und Aufmerksamkeit bekommen, die sie brauchen, um verstanden zu werden und integriert bzw. heilen zu können. Alle dafür nötigen Ressourcen liegen in uns, wir müssen sie lediglich entdecken, nähren, kultivieren. Ein befreundeter Philosoph nannte dies „Mit der eigenen Lebensweise in Frieden sein“. Oder in den Worten von Thich Nhat Hanh: „Es gibt keinen Weg zum Frieden, Frieden ist der Weg“.

Mein Fazit:
In der individuellen Lebenserfahrung wie in der westlichen Kultur dominieren oft Angst- und Machtstrukturen. Dies muss nicht so sein. Hierarchische Beziehungen können aufgelöst werden und vielfältige Kooperationen an ihre Stelle treten. SpielRaum für Entfaltung entsteht, wenn wir die uns innewohnenden Ressourcen für mehr Mitgefühl nutzen und gemeinsam kultivieren.

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